Das Streckennetz von GleisX
Fast wäre Sie Augenoptikerin geworden, doch dann entschied sich die ausgebildete Gemeindereferentin Conni Wessel doch anders: Heute ist sie so etwas wie eine Zugbegleiterin – in der Jugendkirche „GleisX“ unweit des Gelsenkirchener Hauptbahnhofes. Wie ein roter Faden zieht sich die Gleis- und Zugsymbolik hier durch das Programm einer Kirche, die andere Wege gehen will. „Unser Streckennetz mit den verschiedenen Haltestellen und Linien ist ein schönes Bild für das Leben“, meint Wessel, die dort seit 2019 als Jugendreferentin arbeitet. „Manche Linien nimmt man jeden Tag, manchmal kommt man an einen Kopfbahnhof, von dem man in die gleiche Richtung zurückmuss, aus der man gekommen ist, manchmal muss man Richtungen ändern, mal aussteigen und Pause machen und kann danach bestärkt weiterfahren.“ Daran erinnert die Lichtinstallation, die prominent in der Liebfrauenkirche platziert wurde.
Es wird deutlich, dass GleisX kein Ort der klassischen Gemeinde ist. „Wir sind unabhängiger, verlieren uns nicht so in Strukturen und können deshalb leichter direkt Angebote machen. Das heißt nicht, dass bei uns alles besser ist, aber es kann vielleicht leichter sein“, steckt Wessel den Gestaltungsrahmen ab, den sie und ihre drei Kolleg:innen bei ihrer täglichen Arbeit haben. Die Jugendkirche befindet sich mit ihren Passagieren auf der (Durch-)Reise; mal kürzer, mal länger. „Wir sind offen für jeden und alle, die kommen.“ Ein:e Schaffner:in beurteilt die Fahrgäste nicht nach deren Fahrtziel; er:sie unterstützt beim Ankommen. „Die jungen Menschen (bis 35 Jahre) entscheiden, in welche Richtung, wie schnell und mit wem.“ Es geht viel um Freiheit und Freiwilligkeit.
Angebote gibt es als Kurz- und Langstrecke. Die Kurzstrecke meint die regelmäßigen Formate, nämlich den Chor und die „GleisZeit“, also den Gottesdienst am Sonntag. „Die Langstrecke ist ja beim Zugfahren hingegen eher was Punktuelles, das man sich vorher vornimmt“, bei GleisX fallen darunter also die besonderen Angebote. „Im Advent gibt es jetzt z.B. bei uns einen Budenzauber, also einen Abend in Weihnachtsmarktstimmung mit Glüchwein, Crêpe und Co., nur ein bisschen gemütlicher als draußen auf dem vollen Weihnachtsmarkt“, berichtet die Jugendreferentin.
Ein anderes, wichtiges Bild aus dem Zug-Wortschatz ist das Andreaskreuz: Als X findet es sich auch im Namen GleisX wieder. „Das Andreaskreuz bedeutet, dass alle halten müssen, weil der Zug Vorrang hat. Und hier darf Gott mal Vorrang haben. Man darf sich Zeit und Raum lassen, um Gott den Vorrang zu geben.“
Die Reaktion von Menschen, die zum ersten Mal in die Gelsenkirchener Kirche kommen, sei oft „Wow! Dass das geht!“ Selten werde auch „Muss das sein?!“ gefragt. „Ja, weil das ist das Leben!“, ist dann die Antwort. „Das ist das, was in der Kirche sonst so oft fehlt. Wir wollen das ‚wahre Leben‘ in die Kirche holen.“ Das Streckennetz stehe damit auch für Offenheit, Kreativität und Veränderungswillen im Bistum Essen.
Es müsse dabei darum gehen, „die Kirche zu seinem eigenen Ort zu machen“. Wessel findet: „Man sollte mutig sein, seinen Ort zu finden, und sich nicht einfach damit abfinden, nur alles doof zu finden und keine Verbesserungsvorschläge zu haben.“ Aus eigener Erfahrung wisse sie, dass sich das lohnt: „Dann lässt sich erfahren, dass Glaube einen Mehrwert hat.“